Ausgearbeitete Fassung des Vortrags:

Wirkung von Pornographie auf Jugendliche
gehalten am 13. November 1999 im Jugendgästehaus Mainz

Version 17. Januar 2000

Erik Möller - Recherchedienste
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Einleitung

Zu meiner Person

Ich studiere seit April 1999 Medieninformatik an der Technischen Fachhoschule Berlin. Ich bin seit mehreren Jahren als Freier Journalist tätig und habe Artikel unter anderem für die Taz, den Kölner Stadt-Anzeiger und die renommierte Computerzeitschrift c't verfaßt. Themenschwerpunkte waren und sind Internet-Zensur und EDV-Sicherheitsfragen. Daneben betreibe ich freiberuflich einen wissenschaftlichen Recherchedienst (Scientific Review Service). Im Auftrag von Kunden vor allem aus dem universitären Bereich bemühe ich mich dabei um eine fundierte Zusammenfassung der Quellenlage zu einer wissenschaftlichen Fragestellung.

Zum Vortrag "Wirkung von Pornographie auf Jugendliche" und zu diesem Text

Im Falle meiner Untersuchungen zur Frage der Pornographiewirkung war es so, daß zunächst von meiner Seite aus ein Interesse an der Thematik bestand, da im Zusammenhang mit Recherchen zur Problematik der Internet-Zensur die Frage auftauchte, ob es wissenschaftlich erwiesen ist, daß Pornographie schädliche Wirkungen auf das Individuum und die Gesellschaft hat. Auch ich war bis zu diesem Zeitpunkt stillschweigend davon ausgegangen. Leider erbrachten Anfragen an mehrere führende Sexualwissenschaftler nur ungenügende Resultate. Empirisches Fachwissen aus dem Bereich der Wirkungsforschung war entweder nicht vorhanden oder wurde (was sicherlich wahrscheinlicher ist) nicht mit einem Journalisten geteilt. Ich suchte also nach einem Kunden, der Interesse an der Finanzierung einer Studie zur Zusammenfassung der Faktenlage haben könnte und fand diesen im September 1998. Der Kunde selbst muß an dieser Stelle anonym bleiben, es sei aber gesagt, daß es sich nicht um ein Unternehmen der Pornographie-Branche handelt, sondern um eine Organisation, die ein objektives Interesse an der Wirkung pornographischer bzw. erotischer Schriften hat.

Auf Einladung von Steve Schreiber, Mitglied der Humanistischen Union, habe ich am 13. November 1999 auf einer Tagung der HU und der Arbeitsgemeinschaft Humansexualität im Jugendgästehaus Mainz eine ausschnitthafte Zusammenfassung meiner Recherche mit dem eigens hierfür neugewählten Schwerpunkt "Wirkung von Pornographie auf Jugendliche" vorgetragen. Der Vortrag stieß auf sehr positive Resonanz, und ich wurde um eine schriftliche Ausarbeitung gebeten, die ich hiermit vorlege.

Fragestellung

Wie wirkt Pornographie (ausgenommen Tier- und Kinderpornographie) auf Jugendliche? Nach wie vor existiert mit dem § 184 StGB ein Verbot der Verbreitung pornographisch-erotischer Darstellungen an Personen unter dem Alter von 18 Jahren. Ist dieses Verbot aufgrund wissenschaftlich erwiesener schädigender Wirkungen berechtigt, oder schadet es durch eine damit verbundene Sexualrepression womöglich?


Methodik und Struktur

Probleme

Es existieren praktisch keine Untersuchungen, die die Wirkung von Pornographie auf Jugendliche direkt betreffen. Die Konfrontation von Jugendlichen mit Pornographie gilt, wenn dabei Lustgefühle hervorgerufen werden, als unmoralisch. Ohne moralische Bedenken wird Pornographie, auch Kinderpornographie, dagegen zur Behandlung von Jugendlichen wegen unerwünschter sexueller Neigungen genutzt. Dies geschieht z.B. in den USA bei der Behandlung homosexueller Teenager auf Wunsch ihrer Eltern. Dabei wird mit Erektionsmeßgeräten bzw. vaginalen Feuchtigkeitsmessern die sexuelle Reaktion auf homoerotische Darstellungen getestet und, falls die Versuchsperson sexuell erregt ist, mit Elektroschocks oder Ammoniak eine Aversionsreaktion herbeigeführt (Mirken 1994, Mournian 1998).

Sexualität ist oft nur dann ein legitimes Thema der Forschung (und der Medien), wenn sie mit Sexualunterdrückung und Gewalt in Verbindung steht.

Aus den oben genannten "ethischen" Gründen betreffen die meisten Untersuchungen Studenten. Der Fernsehsender Premiere hat eine tiefenpsychologische Studie durchgeführt, bei der Jugendliche bezüglich ihrer Erfahrungen mit Erotika befragt wurden. Diese ist aber von geringer empirischer Relevanz und mit dem Makel des Auftraggebers behaftet.

Möglichkeiten einer Annäherung

Alternativ zur direkten Konfrontation von Jugendlichen mit Pornographie sind folgende Ansätze zur Analyse eines Wirkungszusammenhangs denkbar:

Darüber hinaus ist die Erwachsenenforschung nicht völlig von der Hand zu weisen. Fundamentale Unterschiede zwischen der Wirkung eines Porno-Films auf einen 17jährigen Schüler und auf einen 20jährigen Studenten werden von niemandem ernsthaft postuliert.

Neben einer spezifischen Annäherung ist auch eine allgemeine Annäherung, die sich auf die grundsätzliche Funktion der Sexualität konzentriert, möglich und soll hier versucht werden. Dazu bieten sich an:


Forschung seit 1970

Eine häufig geäußerte Hypothese lautet, Pornographie verursache Vergewaltigungen und Sexualstraftäter seien durch Pornographie beeinflußt. Diese Hypothese ist von entscheidender Bedeutung für das Verbot von Pornographie für Jugendliche. Wenn sie zutrifft, muß Pornographie in der Tat verboten sein, um die Gesellschaft zu schützen.

Forschungen an Sexualstraftätern zeigen aber:

Weitere Studien (s. Literaturliste) bestätigten diese Ergebnisse: Sexualstraftäter entstammen eben nicht einem sexuell promiskem Elternhaus, in dem Pornographie gang und gäbe ist. Das Gegenteil ist wahr. Allemein gilt: Aggressionskriminelle entstammen meist einem sexualrepressiven Elternhaus. Warum das so ist, darüber wird noch zu reden sein.

Bereits jetzt kann festgestellt werden (Goldstein und Kant haben das schon 1970 getan): Das Porno-Verbot für Jugendliche schadet diesen möglicherweise, da es ein sexuellrepressives Umfeld schafft, in dem Sexualstraftäter erst entstehen. Dennoch wäre eine kurzfristige oder schleichende negative Pornographiewirkung denkbar. Entsprechende Hypothesen wurden schon durch die amerikanische Presidential Commission on Obscenity and Pornography widerlegt. Diese wurde 1967 erschaffen und finanzierte von 1968-1970 über 80 Pornographie-Studien.

Im einzelnen ist die Fülle an Material hier kaum wiederzugeben, aber das folgende Zitat aus dem Abschlußbericht spricht für sich:

"Gründliche empirische Untersuchungen durch die Kommission und andere Gruppen haben keine Anhaltspunkte dafür ergeben, daß die Konfrontation mit Darstellungen eindeutig sexuellen Inhalts in einem Kausalzusammenhang steht mit persönlichen oder sozialen Schädigungen, wie etwa Kriminalität, Delinquenz, sexuelle oder nicht-sexuelle Devianz, ernsten psychischen Störungen. Die Empirie bekräftigt also die Ansicht der überwiegenden Mehrheit der Fachleute, die sich mit der Behandlung devianten und sozialschädlichen Verhaltens und mit den Ursachen der Kriminalität befassen, daß die Konfrontation mit Erotica keine schädliche Auslösefunktion hat."

Was Kinder und Jugendliche betrifft, heißt es in dem Bericht:

"Auch was die Konfrontation von Kindern mit Erotica betrifft, fehlt der empirische Beweis für einen solchen Kausalzusammenhang. Andererseits reichen die verfügbaren Forschungsergebnisse über die Folgen heute noch nicht aus, um Schlußfolgerungen mit dem gleichen Sicherheitsgrad wie bei Erwachsenen zu ziehen. Auch stehen die starken ethischen Bedenken gegen eine experimentelle Konfrontation von Kindern mit Erotica der Möglichkeit im Weg, hier die notwendigen Daten und Informationen zusammenzutragen."
Es gab aber auch Schadensbehauptungen durch Wissenschaftler. Vor allem von Edward Donnerstein:

Diese Forschungen unterstützen damit die Hypothese einer Triebabfuhr (auch als Katharsis-Hypothese bekannt, Katharsis=Reinigung). Neuere Forschungen deuten ebenfalls in diese Richtung: Dies soll als Überblick über die bisherige Wirkungsforschung genügen.


Kriminologischer Ansatz

Die häufige Behauptung, der Konsum pornographischer oder erotischer Darstellungen verursache Vergewaltigungen, müßte, wie schon oben ausgeführt, anhand von Kriminalstatistiken überprüfbar sein. Dabei sind statistische Entwicklungen vor und nach der Legalisierung der Pornographie zu untersuchen.

Der dänische Kriminologe Berl Kutchinsky hat in mehreren Untersuchungen (die wichtigsten 1970 und 1991) festgestellt: Es gibt keinen Zusammenhang zwischen der Legalisierung von Pornographie und der Inzidenz von Vergewaltigungen. Andere Sexualverbrechen (vor allem sexueller Mißbrauch und sexuelle Belästigung) sind in Dänemark, so die Studie von 1970, nach der Legalisierung von Pornographie gesunken. Kutchinsky führte dies auf einen direkten Einfluß der Pornographie zurück, nachdem er andere Einflußfaktoren wie z.B. eine gesunkene Anzeigebereitschaft als Grund für den Rückgang ausschalten konnte.

1991 hat Kutchinsky den meines Wissens bis dahin größten internationalen kriminologischen Vergleich zur Feststellung eines Wirkungszusammenhangs durchgeführt. Auch hier konnte er keinen Zusammenhang zwischen den Vergewaltigungsraten und der Legalisierung von Pornographie feststellen, hingegen eine starke Korrelation zwischen Vergewaltigungen und übriger Aggressionskriminalität (was darauf hindeutet, daß beide ähnliche oder gleiche Ursachen haben).

Mehr als 25 Jahre nach der Porno-Legalisierung in Europa ist nun eine kriminologische Langzeit-Untersuchung der Folgen möglich. Kutchinsky hat zwar 1991 eindeutig eine Nichtwirkung der Pornographie nachgewiesen, was aber eine denkbare positive Wirkung auf potentielle Vergewaltiger angeht, so konnte er darüber mangels Datenmaterial nur spekulieren. Mittlerweile ist mit den United Nations World Crime Surveys, einer internationalen Sammlung von Kriminalstatistiken, ein wichtiges Werkzeug zu einer weitaus umfassenderen Analyse vorhanden als Kutchinsky sie Anfang der 90er hätte durchführen können.

Ich habe deshalb von 1998 bis 1999 entsprechende Daten gesammelt, digitalisiert, nach unterschiedlichen Erfassungsmodalitäten korrigiert, grafisch umgesetzt und verglichen. Ein Bruchteil der Ergebnisse wurde im Vortrag vorgestellt, eine schriftliche Vorstellung der Ergebnisse ist einer weiteren Publikation vorbehalten.


Zwischenbilanz

Nach der bisherigen Wirkungsforschung ist festzustellen: Eine Negativwirkung der Pornographie existiert nicht, aber Unterdrückung sexueller Lust führt zu gesteigerter Aggressionsbereitschaft. Pornographie führt definitiv nicht zu Vergewaltigungen. Man muß davon ausgehen, daß es keinerlei negative Wirkung auf Jugendliche gibt. Das bestehende Verbot könnte jedoch sexuelle Fehlentwicklungen begünstigen.

Die derzeitige Gesetzgebung, die die Verbreitung nichtaggressiver sexueller Inhalte an Personen unter 18 J. verbietet, sollte einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Nicht nur nützt sie nicht, sie richtet möglicherweise schweren Schaden an. Aus kriminologischer Sicht sind weitere, ausführlichere statistische Untersuchungen notwendig.

Wissenschaftliche Erkenntnisse sprechen seit 30 Jahren gegen die feministische bzw. christlich-konservative Hypothese, daß Pornographie Gewalt verursacht. Es stellt sich hier die vielleicht entscheidende Frage: Was sind die Gründe der Pornographie-Gegner?

Wie wird Pornographie von den Porno-Gegnern gesehen?

Feministinnen und christliche Fundamentalisten diagnostizieren gleichermaßen eine gesellschaftliche Übersexualisierung. Hierzu Emma 5/6 98, S.82:

"Kriegspropaganda gegen Frauen"

"Die Pornographisierung des Alltags hat solche Ausmaße angenommen, daß sie kaum noch auffällt. Pornographie ist überall und allgegenwärtig, sie ist normal.

In Vormittags-Talks flimmern Windelfetischisten über den Bildschirm, wie in Vera am Mittag. Private Fernsehsender wie RTL 2 werben mit Softpornos für ihr Weihnachtsprogramm ("Feiern Sie mit uns das Fest der Liebe!"). Boulevard-TV-Moderatorinnen wie Birgit Schrowange posieren in Dessous für Hochglanz- Magazine ("Meine sündige Seite"). Schauspielerinnen plaudern über Masturbation, wie Julia Stemberger in der Johannes B. Kerner Show. "Rotlicht-Märchen" wie Der König von St. Pauli auf SAT 1 brechen alle Quotenrekorde, und Pornoproduzenten wie Larry Flynt sind die neuen Hollywood-Stars." usw. usf.

Ohne daß dies von den Porno-Gegnern offen ausgesprochen wird, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie Sexualität insgesamt als schmutzig ansehen und sich ihre Kritik nicht nur auf Pornographie bezieht. "Schauspielerinnen plaudern über Masturbation", auch dies ist demnach eine frauenerniedrigende, objektivierende Form der Sexualität -- was bleibt dann noch außer der Rolle als Koch- und Putzkraft mit gelegentlicher Beischlafpflicht, die zu bekämpfen die antipornographische feministische Front vorgibt? Birgit Schrowange wird kritisiert, weil sie in Dessous für Hochglanz-Magazine posiert -- sicherlich bei ihrem Jahreseinkommen keine erzwungene Entscheidung. Dennoch: Selbsterniedrigung. Früher hätte man gesagt: ein Luder, eine Schlampe. Heute sagt man: Pornographie.

Hierzu passend schrieb Andrea Dworkin 1979: "Real women are tied up, stretched, hanged, fucked, gang-banged, whipped, beaten, and begging for more." "Fuck" steht hier in eine Reihe mit Auspeitschen, Aufhängen, Gruppenvergewaltigung und Prügel. "Ficken" also fast gleichzusetzen mit Vergewaltigung und Mord. Dworkins Ergüsse zum Thema Pornographie sind teilweise so extrem, daß man sie fast für eine unbedeutende Fanatikerin halten muß, aber sie war die Speerspitze der antipornographischen Bewegung in den USA.

Weitere Zitate, die für sich sprechen:

Auffallend ist, daß die zur Illustration von Artikeln und Berichten eingesetzten Pornos fast ausschließlich dem SM-Bereich entstammen und stets darauf ausgelegt sind, beim Betrachter negative Gefühle zu wecken. Oft werden Pornographie und Betrachter in einem Bild gezeigt, um ein "Täter-Opfer"-Bild zu erzeugen (in einem Emma-Artikel: eine unglücklich schauende Frau, die von mehreren Männern gierig angestarrt wird, eine nackte Frau mit SM-Bemalung, ein Mann mit Zigarette im Hintergrund, dessen Kopf nicht sichtbar ist). Die Frage, ob es so etwas wie lustvoll und in beiderseitigem Einverständnis gelebten Sadomasochismus gibt, stellt sich den Porno-Gegnern ohnehin nicht. Dies ist, bedenkt man ihre Gesamthaltung zur Sexualität, nicht verwunderlich. SM-Pornographie ist aber nur eine verschwindende Minderheit pornographischer Darstellung, deren Anteil sich nach mehreren Studien zwischen 2 und 9 % bewegt (s. Literaturliste). Deshalb ist die feministische Sicht nicht nur eingeschränkt, sondern stark selektiv.

Eine weitere große Gruppe von Pornographie-Gegnern findet sich im christlich-fundamentalistischen Bereich. Die Gründe ihrer Pornographie-Ablehnung sind im wesentlichen identisch mit denen der Feministinnen, die Ablehnung von Sexualität ist aber genereller und wird offener ausgesprochen. Ein Zitat einer christlichen Kleinagentur, die sich stark gegen Pornographie engagiert:

"Die Angriffe des internationalen Pornokartells werden immer dreister! Völlig unbeeindruckt von den schrecklichen Sexualverbrechen an Kindern in letzter Zeit, überzieht derzeit mit einer bisher noch nie dagewesenen propagandistischen Wucht das gut organisierte Pornonetz flächendeckend das Land. Sog. 'Erotikmessen' finden en masse statt [...] Dies auf riesigen Ausstellungsflächen mit der Größe von Bau-großmärkten. Die Darbietungen reichen von Sex- bzw. Perversitätsartikeln, 'Non-Stop-Live-Shows', 'Non-Stop-Striptease' bis zu 'Sado/Maso-Aktionen'. [...] Es steht nämlich fest: Die sog. 'normale Erwachsenenpornographie' steht nicht isoliert da. Ihre Popularisierung verschiebt den Kompaß der sexualpathologischen Reizschwelle. Das bedeutet: Dem extremen, dem pathologische Ende der Mitglieder des Bevölkerungs- spektrums, sind die Stimuli der 'normalen Pornographie' keine Reize mehr. Diesen Teil der Abnormen drängt es zur immer massiveren Stimulation. Diese brauchen dann den 'ultimativen Kick'."

Letzteres ist eine beliebte Variante der Schädigungsbehauptung: eine drogenartige Porno-Abhängigkeit, die sich zunächst zu immer härteren Stimuli steigert und schließlich zur perversen Tat bis hin zum Mord. Derartiges existiert nicht.

Die Ursachen der Porno-Ablehnung liegen, sowohl bei den Feministinnen als auch bei christlichen Fundamentalisten, wohl gleichermaßen in der jahrhundertealten christlichen Ideologie der Sexualfeindlichkeit und Selbstkasteiung, die aus dem Mittelalter bis in die Moderne überlebt hat. Die Propheten der Übersexualisierung verfügen selbst über eine abnorm gesteigerte Wahrnehmung sexueller Elemente. Das folgende Zitat aus Jürgen Starks Buch "No Sex" spricht für sich:

"[Am FKK-Strand:] Es fiel mir anfangs sehr schwer, besonders bei zwei attraktiven und mit sehr weiblichen Formen augestatteten Schwestern aus Berlin, nur auf deren Gesichter zu blicken. Mit ihnen freundeten wir uns an, verbrachten viel Zeit miteinander. Doch seltsamerweise aenderte sich diese unruhige Situation sehr schnell, normalisierte sich die Wahrnehmung. Schon nach wenigen Tagen verschwand dieses gierige Gaffen und Glotzen ganz von selbst, man spielte nackt Badminton, sass am Pool, ohne dies noch als besondere - vor allem erregende oder anregende - zweideutige Situation zu empfinden. Ein Erlebnis, welches ich bis heute nicht vergass. Verhuellung heizt also an. Wenn ich dann in diesen Tagen lese, dass die Ayatollahs im Iran ueber das Recht der Frauen aufs Fahrradfahren erregt debattieren, dies vor dem Hintergrund, dass die Bewegung der Damenhueften beim Radeln zu sexy selbst unter ihrer Totalverhuellung sein koennte, dann wird diese Erinnerung um so mehr in mir wach."


Rückblick und Ausblick

Oben stellte sich bereits die Frage, inwieweit sexuelle Repression direkt Gewalttätigkeit hervorruft, was auch durch die starke Korrelation zwischen Vergewaltigungen und anderen Aggressionsdelikten bestätigt wird. Hierzu wurde 1975 von dem Neuropsychologen James W. Prescott eine wichtige Untersuchung durchgeführt. Prescott verglich dazu sog. "primitive" Kulturen auf verschiedene Merkmale, die von Ethnologen der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte gesammelt wurden. Nach seiner Studie sind Kulturen, die vorehelichen Sex unterdrücken, gewalttätiger als solche, die es nicht tun. Auch die fehlende Mutter-Kind-Bindung ist eine wesentliche Ursache von Gewalttätigkeit. Gewalttätigkeit ist damit auf neurophysiologischer Ebene das Resultat des Entzugs körperlichen Kontakts (somatosensorische Deprivation).

1998 stellte Prescott in einer Vergleichsuntersuchung an US-Bundesstaaten fest, daß solche, die Pro-Körperstrafe-Legislativen für Schüler haben, höhere Vergewaltigungsraten aufweisen als solche, die sie nicht haben.

Es gibt in der Gehirnforschung aber auch Hinweise, daß Sexualrepression nicht nur zu Gewalttätigkeit, sondern auch zu mangelnder Kreatitivität und abnehmenden sozialen Fähigkeiten führt:

Triebunterdrückung, besonders in früher Kindheit, führt also zu genau den beschriebenen Eigenschaften: mangelndes Vorstellungsvermögen und mangelnde Reflektionsfähigkeit, denn diese sind in den genannten Gehirnarealen angesiedelt (Stuss und Benson 1987).

Dies wirft auch ein völlig neues Licht auf frühere Forschungsergebnisse aus dem Bereich der Soziologie:

Bisher glaubte man, intelligente Kinder hätten früher Sex, weil sie intelligenter sind und deshalb mehr ausprobieren. Aber nach den genannten Erkenntnissen der Gehirnforschung ist es möglicherweise genau umgekehrt: Sie sind intelligenter, weil sie früher Sex haben. Und was Sexualstraftäter angeht: Diese entstammen restriktiven Elternhäusern und haben spätere Sexualkontakte (Goldstein et al. 1974), wären nach dieser Forschung im Durchschnitt also weniger intelligent und sind es auch.


Der Bonobo

Zum Schluß sei auf den nächsten genetischen Verwandten des Menschen verwiesen, auf den Schimpansen, genauer, den Bonobo-Schimpansen. Diese wenig bekannte Schimpansenart verfügt über eine matriarchalische Sozialstruktur und praktiziert Sex in allen denkbaren Variationen mehrfach täglich, allerdings völlig gewaltfrei. Konflikte, selbst mit nicht der Gruppe zugehörigen Affen, werden so gut wie nie mit Gewalt, sondern fast ausschließlich mit Sex gelöst. Bonobos führen über eine sehr hohe Lernfähigkeit, wie das Beispiel von Kanzi zeigt, ein Bonobo, der dazu ausgebildet wurde, mit einer Symbolsprache zu kommunizieren und der Englisch gut genug versteht, um komplexe Befehle auszuführen. Es stellt sich die Frage, ob der Mensch mit all seinen Fehlern, der Mensch, der für Sklaverei, Folter, Konzentrationslager, Nuklearwaffen und die Zerstörung seiner eigenen Umwelt das Urheberrecht beanspruchen kann, von diesen "primitiven", aber friedlichen Tieren nicht einiges lernen kann. Ich schließe mit einem Zitat aus James Prescotts wegweisendem Artikel "Body Pleasure And The Origins Of Violence":

The hypothesis that physical pleasure actively inhibits physical violence can be appreciated from our own sexual experiences. How many of us feel like assaulting someone after we have just experienced orgasm?


Literatur

Behandlung von Jugendlichen mit Pornographie:

Mirken, Bruce: "Setting Them Straight", 10 Percent 1994
Mournian, Thomas: "Hiding Out", San Francisco Bay Guardian 8. April 1998


Ätiologie von Sexualstraftätern

Amir, M. (1965): Patterns in forcible rape. Unpublished doctoral dissertation. University of Pennsylvania, 1965.
Gebhard, P. H. et al. (1965): Sex offenders. An analysis of types. New York.
Churchill, W. (1967): Homosexual behaviour among males. New York.
Gagnon, J. H. und Simon, W. (1967): Sexual deviance. New York.
Galbraith, G. G. und Mosher, D. L. (1968): Associative sexual responses in relation to sexual arousal, guilt, and external approval contingencies. Journal of Personality and Psychology, 10, S. 142-147.
Kant, Harold S. und Goldstein, Michael J. (1970): Pornography. Psychology Today, Dezember.
Eysenck, H.J. (1976): Sex and Personality, Open Books, London.
Geiser, R. L. (1979): Hidden victims - the sexual abuse of children, Boston: Beacon Press.
Fox, Ch. (1980): The non-violent sex offender, in: West (ed.), Sex offenders in the criminal justice system, Cambridge, Institute of Criminology, S. 194.


Presidential Commission on Obscenity and Pornography

Der Pornographie-Report (1971): Untersuchung der "Kommission für Obszönität und Pornographie" des amerikanischen Kongresses. Reinbek b. Hamburg, Rowohlt.


Zusammenhang zwischen sexueller Erregung und Aggressionsbereitschaft

Donnerstein, E. und Hallam, J. (1978): Facilitating Effect of Erotica on Aggression Against Women. Journal of Personality and Social Psychology, Bd. 36, Nr. 11, S. 1270-1277 (mehrfach reproduziert).
Baron, R. A. (1973): Effects of heightened sexual arousal on physical aggression. Proceedings, 81st Annual Convention, APA, S. 171-172.
Frodi, Ann (1977): Sexual Arousal, Situational Restrictiveness, and Aggressive Behavior. Journal of Research in Personality, 11, S. 48-58.


Neuere Forschungen

Ertel, Henner (1990): Erotika und Pornographie. Repräsentative Befragung und psychophysiologische Langzeitstudie zu Konsum und Wirkung. München, Psychologie-Verlags-Union.
Padgett, V. R. et al. (1989): Pornography, Erotica, and Attitudes Toward Women: The Effects of Repeated Exposure. The Journal of Sex Research, Bd. 26, Nr. 4, S. 479-491. November.
Qualitative Grundlagenstudie: Jugendschutz und TV-Erotik. Eine tiefenpsychologische Studie zur Wirkung von TV-Erotik auf Jugendliche und zu den familiären Jugendschutzformen. IFM Köln, 1997


Berl Kutchinskys kriminologische Forschungen

Kutchinsky, Berl (1971): Pornographie und Sexualverbrechen. Das Beispiel Dänemark. Köln, Kiepenheuer & Witsch.
Kutchinsky, Berl (1983): Obscenity and pornography: Behavioral aspects. In: S. H. Kadish (Hg.): Encyclopedia of crime and justice, Bd. 3 (S. 1077-1086). New York, Free Press.
Kutchinsky, Berl (1991): Pornography and Rape: Theory and Practice? Evidence from Crime Data in Four Countries where Pornography is Easily Available. International Journal of Law and Psychiatry, Bd. 14, S. 47-64.


Anteil von SM-Pornographie an Gesamtpornographie (2-9%)

Kutchinsky, Berl (1983): Obscenity and pornography: Behavioral aspects. In: S. H. Kadish (Hg.): Encyclopedia of crime and justice, Bd. 3 (S. 1077-1086). New York, Free Press.
Soble, A. (1986): Pornography. Marxism, feminism, and the future of sexuality. New Haven und London: Yale University Press.
Winick, C. (1985): A content analysis of sexually explicit magazines sold in an adult bookstore. Journal of Sex Research, 21, S. 206-210.


Rückblick und Ausblick: Primitive Kulturen, Funktion der Sexualität, Gehirnforschung

Kinsey, Alfred C. et al. (1948): Sexual Behavior in the Human Male. Philadelphia.
Textor, R. B. (1967): A Cross-Cultural Summary. New Haven, Conn.: Human Relations Area Files (HRAF) Press.
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Stuss, Donald T. und Benson, Frank D. (1987): The Frontal Lobes and Control of Cognition and Memory, in: Perecman, Ellen: The Frontal Lobes Revisited. London.
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Heath, Robert (1996): Exploring the Mind-Brain Relationship. (In Kürze im Volltext unter http://www.violence.de.)
Prescott, James W. (1996): The Origins of Human Love and Violence. Pre- and Perinatal Psychology Journal, Bd. 10, Nr. 3, S. 143-188. Im Internet: http://www.violence.de/prescott/pppj/article.html
Prescott, James W. (1996): Rape Rates In The 15 Most And 15 Least Violent States (Per 100,000 Population). Comparing State Rape Rates In 1996 As A Function Of States That Endorse "Paddling" Of Children. Unveröffentlicht, anforderbar bei Erik Möller.
National Institute of Mental Health (1997): Brain Activity sans Sex Hormones: A Vanishing Act? Pressemitteilung (August) (http://www.nimh.nih.gov/events/feabrain.htm). Zugrundeliegende Veröffentlichung in Proceedings of the National Academy of Sciences, August.
Chugani, Harry T. (1998): A Critical Period of Brain Development: Studies of Cerebral Glucose Utilization with PET. Preventive Medicine 27, S. 184-188.


Bonobos

De Waal, Frans, Lanting, Frans (1998): Bonobos. Die zärtlichen Menschenaffen. Basel, Birkhäuser 1998.
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